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Nikolaus Lenau (1802-1850)
Frage
O Menschenherz, was ist dein Glück?
Ein rätselhaft geborner,
Und, kaum gegrüßt, verlorner,
Unwiederholter Augenblick!
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Wang We (gestorben ca. 756)
Herbstabend im Gebirge
Im stillen Bergtal hat es frisch geregnet.
Die Abendluft ist herbstlich kühl und rein.
Der lichte Mond scheint durch die Kiefernzweige.
Der klare Quell fließt über das Gestein.
Der Bambus raschelt unter Mädchentritten.
Der Lotos schwankt von einem Fischerkahn.
Im Augenblick ist Frühlingsduft zu Ende.
Nun fängt für dich die lange Ruhe an.
(aus dem Chinesischen von Richard Wilhelm)
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anonym
Im Morgengrauen
Mich fröstelt kalt. Der Docht verglüht.
Ich wurde alt. Ich wurde müd.
Durchs Fenster in mein Zimmer bricht
Die Morgenröte und sieht mich nicht.
Sie tanzt, ein eitles Weib, vorbei
Und spiegelt im Spiegel ihr Konterfei.
(aus dem Chinesischen von Klabund)
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Joachim Ringelnatz (1883-1934)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/ringelnatz.php
Kniebeuge
Kniee - beugt!
Wir Menschen sind Narren.
Sterbliche Eltern haben uns einst gezeugt.
Sterbliche Wesen werden uns später verscharren.
Schäbige Götter, wer seid ihr? und wo?
Warum lasset ihr uns nicht länger so
Menschlich verharren?
Was ist denn Leben?
Ein ewiges Zusichnehmen und Vonsichgeben. -
Schmach euch, ihr Götter, dass ihr so schlecht uns versorgt,
Dass ihr uns Geist und Würde und schöne Gestalt nur borgt.
Eure Schöpfung ist Plunder,
Das Werk sodomitischer Nachtung.
Ich blicke mit tiefster Verachtung
Auf euch hinunter.
Und redet mir nicht länger von Gnade und Milde!
Hier sitze ich; forme Menschen nach meinem Bilde.
Wehe euch, Göttern, wenn ihr uns drüben erweckt!
Beine streckt!
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Du Fu (712-770)
Leuchtkäfer
Am Hexenberg in der herbstlichen Nacht
Leuchtkäfer schwirren.
Durch des Fensters Vorhang sie kommen herein,
durchs Fenster sie irren!
Die Zither gibt einen heimlichen Klang,
und sie erschrecken.
Wie Sterne schwärmen sie wieder hinaus
um Dächer und Ecken.
Sie fliegen am Brunnengeländer umher,
einzeln, am feuchten.
In Blütenkelche verirren sie sich
und machen sie leuchten.
Weißhaariger Alter aus fernem Land
schaut von einem zum andern:
Wird er zu Hause sein heut übers Jahr
oder immer noch wandern?
(aus dem Chinesischen von Richard Wilhelm)
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Theodor Storm (1817-1888)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/theodor_storm.php
Lied des Harfenmädchens
Heute, nur heute
Bin ich so schön;
Morgen, ach morgen
Muss alles vergehn!
Nur diese Stunde
Bist du noch mein;
Sterben, ach sterben
Soll ich allein.
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Andreas Gryphius (1616-1664)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/andreas_gryphius.php
Menschliches Elende
Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhaus grimmer Schmerzen
Ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit,
Ein Schauplatz herber Angst, besetzt mit scharfem Leid,
Ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen.
Dies Leben fleucht darvon wie ein Geschwätz und Scherzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid
Und in das Toten-Buch der großen Sterblichkeit
Längst eingeschrieben sind, sind uns aus Sinn und Herzen.
Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt,
Und wie ein Strom verscheust, den keine Macht aufhält:
So muss auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden,
Was itzund Atem holt, muss mit der Luft entfliehn,
Was nach uns kommen wird, wird auch ins Grab nachziehn.
Was sag ich? wir vergehn wie Rauch von starken Winden.
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Friedrich Hebbel (1813-1863)
Nachtgefühl
Wenn ich mich abends entkleide,
Gemachsam, Stück für Stück,
So tragen die müden Gedanken
Mich vorwärts oder zurück.
Ich denke der alten Tage,
Da zog die Mutter mich aus;
Sie legte mich still in die Wiege,
Die Winde brausten ums Haus.
Ich denke der letzten Stunde,
Da werden's die Nachbarn tun;
Sie senken mich still in die Erde,
Dann werd ich lange ruhn.
Schließt nun der Schlaf mein Auge,
Wie träum ich oftmals das:
Es wäre eins von beidem,
Nur wüsst ich selber nicht, was.
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Karl Kraus (1874-1936)
Nächtliche Stunde
Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich's ersinne, bedenke und wende,
und diese Nacht geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tag.
Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich's ersinne, bedenke und wende,
und dieser Winter geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Frühling.
Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich's ersinne, bedenke und wende,
und dieses Leben geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tod.
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Rüdiger Keller (geb. 1942)
Nur ein paar Millimeter
Viereinhalb Milliarden Jahre, so sagen die Leut’,
gibt’s jetzt die Erde, von Anfang bis heut’.
So lange Zeit, ich sag’s wie es ist,
hat’s Dich nicht gegeben, hat Dich keiner vermisst.
Auf tausend Kilometer diese Zeit nun verteilt,
vielleicht fünfzehn Millimeter, in denen einer hier weilt.
Und bis kurz danach, zehn Millimeter vielleicht,
denkt noch einer an Dich, und ich glaub auch, das reicht.
Und noch ein paar Millimeter drauf,
dann hört das Denken an Dich schließlich auf.
Danach, nach diesem kurzen Leben,
ist es, als hätt’ es Dich niemals gegeben.
Drum merk Dir, Du bist überhaupt nicht wichtig.
Genieß’ jede Stunde, dann machst Du es richtig.
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Muhammad Schams ad-Din Hafis (um 1320-1390)
Reiseziel
Nun ist das Leben an seinem Ziel
Und ohne Zweck war die Reise.
O Jüngling, rühre das Saitenspiel,
Schon morgen wirst du zum Greise.
Das lecke Schiff und der morsche Kiel
In Meeren ohne Geleise,
Der Winde Ball und der Wellen Spiel
Unnütz gewirbelt im Kreise.
So viel gehofft und gewünscht so viel,
Getäuscht in jeglicher Weise,
Hindurch durchs ewige Widerspiel
Gequält von Glut und von Eise.
Nun sinkt die Rose auf mattem Stiel,
Die Blätter fallen vom Reise.
Nun ist das Leben an seinem Ziel
Und ohne Zweck war die Reise.
(aus dem Persischen von Friedrich Rückert)
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Georg Trakl (1887-1914)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/georg_trakl.php
Rondel
Verflossen ist das Gold der Tage,
Des Abends braun und blaue Farben:
Des Hirten sanfte Flöten starben
Des Abends blau und braune Farben
Verflossen ist das Gold der Tage.
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Christian Morgenstern (1871-1914)
Schauder
Jetzt bist du da, dann bist du dort.
Jetzt bist du nah, dann bist du fort.
Kannst du’s fassen? Und über eine Zeit
gehen wir beide die Ewigkeit
dahin - dorthin. Und was blieb?...
Komm, schließ die Augen, und hab mich lieb!
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Christian Morgenstern (1871-1914)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/morgenstern.php
Schicksals-Spruch
Unhemmbar rinnt und reißt der Strom der Zeit,
in dem wir gleich verstreuten Blumen schwimmen,
unhemmbar braust und fegt der Sturm der Zeit,
wir riefen kaum, verweht sind unsre Stimmen.
Ein kurzer Augenaufschlag ist der Mensch,
den ewige Kraft auf ihre Werke tut;
ein Blinzeln - der Geschlechter lange Reihn,
ein Blick - des Erdballs Werden und Verglut.
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Martin Opitz (1597-1632)
Schönheit dieser Welt vergehet
Schönheit dieser Welt vergehet,
Wie ein Wind, der niemals stehet,
Wie die Blume, so kaum blüht,
Und auch schon zur Erden sieht,
Wie die Welle, die erst kimmt
Und den Weg bald weiter nimmt.
Was für Urteil soll ich fällen?
Welt ist Wind, ist Blum und Wellen.
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