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Rüdiger Keller (geb. 1942)
Nur ein paar Millimeter
Viereinhalb Milliarden Jahre, so sagen die Leut’,
gibt’s jetzt die Erde, von Anfang bis heut’.
So lange Zeit, ich sag’s wie es ist,
hat’s Dich nicht gegeben, hat Dich keiner vermisst.
Auf tausend Kilometer diese Zeit nun verteilt,
vielleicht fünfzehn Millimeter, in denen einer hier weilt.
Und bis kurz danach, zehn Millimeter vielleicht,
denkt noch einer an Dich, und ich glaub auch, das reicht.
Und noch ein paar Millimeter drauf,
dann hört das Denken an Dich schließlich auf.
Danach, nach diesem kurzen Leben,
ist es, als hätt’ es Dich niemals gegeben.
Drum merk Dir, Du bist überhaupt nicht wichtig.
Genieß’ jede Stunde, dann machst Du es richtig.
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Martin Greif (1839-1911)
Vor der Ernte
Nun störet die Ähren im Felde
Ein leiser Hauch,
Wenn eine sich beugt, so bebet
Die andre auch.
Es ist, als ahnten sie alle
Der Sichel Schnitt –
Die Blumen und fremden Halme
Erzittern mit.
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Christian Morgenstern (1871-1914)
Schauder
Jetzt bist du da, dann bist du dort.
Jetzt bist du nah, dann bist du fort.
Kannst du’s fassen? Und über eine Zeit
gehen wir beide die Ewigkeit
dahin - dorthin. Und was blieb?...
Komm, schließ die Augen, und hab mich lieb!
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Stefan George (1868-1933)
Sprich nicht immer...
Sprich nicht immer
Von dem laub ·
Windes raub ·
Vom zerschellen
Reifer quitten ·
Von den tritten
Der vernichter
Spät im jahr.
Von dem zittern
Der libellen
In gewittern
Und der lichter
Deren flimmer
Wandelbar.
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Theodor Fontane (1819-1898)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/theodor_fontane.php
Trost
Tröste dich, die Stunden eilen,
Und was all dich drücken mag,
Auch das Schlimmste kann nicht weilen,
Und es kommt ein andrer Tag.
In dem ew’gen Kommen, Schwinden,
Wie der Schmerz liegt auch das Glück,
Und auch heitre Bilder finden
Ihren Weg zu dir zurück.
Harre, hoffe. Nicht vergebens
Zählest du der Stunden Schlag,
Wechsel ist das Los des Lebens,
Und – es kommt ein andrer Tag.
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Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803)
Der Jüngling
Schweigend sahe der Mai die bekränzte
Leichtwehende Lock' im Silberbach;
Rötlich war sein Kranz, wie des Aufgangs,
Er sah sich, und lächelte sanft.
Wütend kam ein Orkan am Gebirg' her!
Die Esche, die Tann', und Eiche brach,
Und mit Felsen stürzte der Ahorn
Vom bebenden Haupt des Gebirgs.
Ruhig schlummert' am Bache der Mai ein,
Ließ rasen den lauten Donnersturm!
Lauscht', und schlief, beweht von der Blüte,
Und wachte mit Hesperus auf.
Jetzo fühlst du noch nichts von dem Elend,
Wie Grazien lacht das Leben dir.
Auf, und waffne dich mit der Weisheit!
Denn, Jüngling, die Blume verblüht!
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Detlev von Liliencron (1844-1909)
Schwalbensiciliane
Zwei Mutterarme, die das Kindchen wiegen,
Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.
Maitage, trautes Aneinanderschmiegen,
Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.
Des Mannes Kampf: Sieg oder Unterliegen,
Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.
Ein Sarg, auf den drei Handvoll Erde fliegen,
Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.
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anonym
Im Morgengrauen
Mich fröstelt kalt. Der Docht verglüht.
Ich wurde alt. Ich wurde müd.
Durchs Fenster in mein Zimmer bricht
Die Morgenröte und sieht mich nicht.
Sie tanzt, ein eitles Weib, vorbei
Und spiegelt im Spiegel ihr Konterfei.
(aus dem Chinesischen von Klabund)
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Paul-Marie Verlaine (1844-1896)
Es glänzt der Himmel...
Es glänzt der Himmel über dem Dach
So blau, so stille.
Ein Baum wiegt draußen über dem Dach
Der Blätter Fülle.
Eine Glocke im Himmel, den du siehst,
Hörst sanft du klingen,
Einen Vogel auf dem Baum, den du siehst,
Seine Klage singen.
Mein Gott! Mein Gott! Das Leben fließt dort
Ohne Leiden und Härmen,
Vom Städtchen kommt mir herüber dort
Ein friedliches Lärmen.
Und du dort, der weint bei Tag und Nacht
In schmerzlicher Klage,
O sage mir du dort, wie hast du verbracht
Deine jungen Tage?
(aus dem Französischen von Wolf von Kalckreuth)
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Detlev von Liliencron (1844-1909)
Tiefe Sehnsucht
Maienkätzchen, erster Gruß,
Ich breche euch und stecke euch
An meinen alten Hut.
Maienkätzchen, erster Gruß,
Einst brach ich euch und steckte
Der Liebsten an den Hut.
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Martin Opitz (1597-1632)
Schönheit dieser Welt vergehet
Schönheit dieser Welt vergehet,
Wie ein Wind, der niemals stehet,
Wie die Blume, so kaum blüht,
Und auch schon zur Erden sieht,
Wie die Welle, die erst kimmt
Und den Weg bald weiter nimmt.
Was für Urteil soll ich fällen?
Welt ist Wind, ist Blum und Wellen.
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Gottfried Keller (1819-1890)
Stiller Augenblick
Fliehendes Jahr, in duftigen Schleiern
Streifend an abendrötlichen Weihern,
Wallest du deine Bahn;
Siehst mich am kühlen Waldsee stehen,
Wo an herbstlichen Uferhöhen
Zieht entlang ein stummer Schwan.
Still und einsam schwingt er die Flügel,
Tauchet in den Wasserspiegel,
Hebt den Hals empor und lauscht;
Taucht zum andern Male nieder,
Richtet sich auf und lauschet wieder,
Wie's im flüsternden Schilfe rauscht.
Und in seinem Tun und Lassen
Will's mich wie ein Traum erfassen,
Als ob's meine Seele wär,
Die verwundert über das Leben,
Über das Hin- und Widerschweben,
Lugt' und lauschte hin und her.
Atme nur in vollen Zügen
Dieses friedliche Genügen
Einsam auf der stillen Flur!
Und hast du dich klar empfunden,
Mögen enden deine Stunden,
Wie zerfließt die Schwanenspur!
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Jesajas Rompler von Löwenhalt (1605-1674)
Spruch
Die Zeit ist schnell, das Leben blöd;
Der Weg ist schmal, die Welt ist schnöd;
Das Fleisch ist schwach, der Feind ein Wicht;
Der Tod gewiss, die Stund doch nicht:
Mensch, rüst dich fein bei rechter Zeit,
Denk immer an die Ewigkeit.
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William Shakespeare (1564-1616)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/shakespeare.php
Sonett LXV
Wenn Erz, Stein, Erde, weite Meeresflut
Der trüben Sterblichkeit Gewalten weicht;
Wie mäße Schönheit sich mit solcher Wut,
Sie, deren Kraft der Blume Kräften gleicht?
O, wie soll Sommers honigsüßer Flor
Verwüsterischer Jahre Sturm bestehn,
Wenn weder Urgebirg noch Eisentor
So mächtig sind, dem Wandel zu entgehn?
Furchtbare Vorstellung! Wo soll vorm Sarge
Der Zeit ihr best Juwel gesichert sein?
Wer hält am schnellen Fuß zurück die arge?
Wer steuert ihren Schönheitsräuberein?
O, niemand: wird dies Wunder nicht gewährt,
Dass dunkle Tinte hell den Freund verklärt.
(aus dem Englischen von Gottlob Regis)
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Johann Grob (1643-1697)
Der Weltreihen
Was ist unser Tun auf Erden?
An die Welt geboren werden:
Sprach- und ganglos in der Wiegen
Sonder eigne Hilfe liegen:
Kriechen, Laufen, Stehen, Sitzen,
Hungern, Dürsten, Frieren, Schwitzen:
Eitle Müh und Arbeit tragen:
Sich mit vielen Sorgen plagen:
Stets in Todsgefahren schweben:
Und zu letzt den Geist aufgeben:
Wiedrum Staub' und Asche werden,
Das ist unser Tun auf Erden.
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