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Franz Graf von Pocci (1807-1876)
Kasperl bei den Menschenfressern
Hier auf dem großen, weiten Meer
Viel Schiffe segeln hin und her;
Aus Indien und Amerika,
Aus Asien und Australia;
Mit Waren aller Art beschwert,
Die in Europa man begehrt,
Ziehn stolz sie auf dem Ozean,
Die Mäste, Segel, Wimpel dran.
Kanonenboote gibt es auch,
Draus schauet mancher eh’rne Schlauch,
Und mit den sogenannten Ehrenschüssen
Die Schiffe sich begegnend grüßen;
Oft aber sausen Kugeln schwer,
Kömmt ein Seeräuber übers Meer,
Da kracht’s und blitzt’s, manch Schiff verbrennt,
Wenn durch den Kiel die Kugel rennt,
Die Pulverkammer fliegt entzwei,
Und Schiff und Mann sind bald wie Brei!
Noch ärger ist’s, wenn auf der See
Ein Sturm entsteht, da heißt’s o weh! -
Denn oft versinkt ins nasse Grab
Das stolze Schiff mit aller Hab’;
Da rennen sie durch Trepp’ und Kammern,
Man hört nur schreien, stöhnen, jammern,
Das Rettungsboot wird abgelassen,
Wie kann das alle Mannschaft fassen?
Sie stoßen, wälzen, drängen sich,
Es ist ein Anblick fürchterlich!
So schieden aus dem Vaterland
Schon viele, die der Tod bald fand,
Als sie, um Schätze zu gewinnen,
Zu Schiffe zogen weit von hinnen!
Lasst euch nun ein Geschichtchen sagen,
Das sich mit Kasperl zugetragen,
Als eine Seefahrt er gemacht,
Und aber doch nichts heimgebracht.
Kurz! Kasperl schwimmt auf einem Kahn
Dort durch den großen Ozean,
Am andern Ufer, denkt er, gleich
Werd' ich in vierzehn Tagen reich;
Denn dort liegt Gold wie Sand am Meer,
Das schlepp' ich nach Europa her.
Kaum ist der Kasperl mitten drin,
Schießt gleich auf ihn ein Walfisch hin,
Und öffnet seinen Rachen weit,
Der einen Strahl von Wasser speit,
Drauf tut es einen großen Ruck,
Verschlinget Kasperl auf einen Schluck.
Der rutscht sogleich in seinen Magen,
Was ihm jedoch nicht will behagen.
Er springt und stößt im Bauch so sehr,
Dass es dem Fisch gefällt nicht mehr.
Der speit ihn schon nach einer Stund’
Hinwiederum aus seinem Mund
Auf eine Insel an den Strand -
Ein gänzlich unentdecktes Land.
Herr Jemine, Herr Jemine!
Wie tut dem Kasperl alles weh,
Weil er so daliegt auf dem Bauch
Ganz miserabel bei einem Strauch;
Zerrissen sind die Höslein sehr,
Und auch sein Magen ist ganz leer!
Er reißt die Haar’ sich aus dem Schopf,
Schreit was er kann aus seinem Kropf:
Zu Hilf, zu Hilf! - wo bin ich, ach!
Zu hungern ist nicht meine Sach!
Wer schafft mir eine gute Wurst!
Wer löscht mit Bier mir meinen Durst!
Zu Hilfe, zu Hilfe!
Auf dies Geschrei kömmt gleich ein Haufen
Von Menschenfressern hergelaufen,
Und wie sie Monsieur Kasperl seh’n,
Sie ganz verwundert bleiben steh’n.
Doch weil sie Menschenfleisch bald riechen,
Sie allgemach ihm näher schlichen,
Sie packten ihn bei seiner Hos’,
Was Monsieur Kasperl sehr verdross,
Und schleppten ihn, obgleich er schreit,
In ihre Höhle gar nicht weit.
Dort brennt ein großes Bratenfeuer,
Das ist fürwahr gar nicht geheuer.
Sie setzen ihn in eine Eck’
An einen pechschwarzdunklen Fleck,
Wo Kasperl nun ganz ungeniert,
Wie hier folgt traurig meditiert!
O, o, o!
Wo, wo, wo -
Sitz' ich nun im finstern Loch
Bei den Menschenfressern noch!
O, o, o!
So, so, so,
Geht es nun mir armem Tropf,
Ich verliere wohl den Kopf!
Ach, ach, ach,
Krach, krach, krach, -
Meine armen, armen Knochen,
Werden bald am Bratspieß kochen!
Hui, hui, hui,
Pfui, pfui, pfui!
Ach! Sie werden mich tranchieren
Und dann grässlich schnabulieren!
O, o, o!
So, so, so,
Hätt’ ich das zuvor bedenket,
Würd’ ich nicht so sehr gekränket!
Hierauf verfiel aus Herzenskummer
Der Kasperl in den tiefsten Schlummer.
Als Kasperl wieder wach geworden,
Sieht er die wilden Menschenhorden
Um ein großmächtig Feuer sitzen
Und einen langen Bratspieß spitzen,
Wobei mit grässlichem Geschrei
Sie singen diese Melodei:
Spissi spassi Casperladi
Hicki hacki Carbonadi
Trenschi transchi Appetiti
Fressi frassi fetti fitti
Schlicki schlucki Casperluki
Dricki drucki mameluki
Michi machi Casperlores
Spissi spassi tschu capores.
Nun ward dem Kasperl etwas übel;
Sie stecken ihn in einen Kübel,
Der war gefüllt mit Walfischschmalz,
Drin wird gerieben er mit Salz,
Wie man’s mit einem Hering macht,
Wobei die Wilden sehr gelacht!
Ihm aber war’s nicht lächerlich,
Vielmehr etwas abstecherlich.
Die Menschenfresser legen ihn
Ins Freie ans Gestade hin,
Damit im warmen Sonnenschein
Das Salz und Fett wohl dringe ein;
Sie kauern selber nieder sich
Und schnarchen alle fürchterlich,
Glaubt’s: so ein Menschenfresserschnarch
War auch dem Kasperl wohl zu arg;
Der zittert voller Angst und bebt,
Und danket Gott, dass er noch lebt.
Doch was geschieht? wie wunderbar!
Hoch in den Wolken schwebt ein Aar;
Vom Fettgeruche angezogen
Kömmt er auf Kasperl losgeflogen,
Packt bei dem Höslein schnell ihn an
Mit seinen Krallen, so fest er kann,
Erhebt sich mit ihm übers Meer,
Zu fliegen hin, wo er kam her.
So war es doch für Kasperl besser,
Als wenn ihn brieten die Menschenfresser,
Dass ihn der Adler in einem Flug
Zurücke nach Europa trug;
Auf eines hohen Berges Spitze
Setzt er ihn samt seiner Mütze,
Und schwebt dann wieder weiter fort
Zu seiner Brut im Felsenhort;
Er will wohl seinen Jungen sagen,
Dass einen Fraß er heimgetragen.
Nun war der Kasperl in Gefahr,
Dass ihn auffrisst der Adler Schar!
Doch er besinnt sich gar nicht lang
Was er zur Rettung nun anfang’;
Sogleich legt er sich auf den Buckel
Und tut nur ein ganz kleines Ruckel,
Er kollert, rollert überzwerch
In einem Hui hinab den Berg
Und lieget unten in einer Schlucht,
Dieweil der Aar ihn droben sucht.
Am ganzen Leib voll blauer Flecken
Tut Kasperl hin und her sich strecken,
Doch weil sein Magen ziemlich leer
Isst er im Walde Heidebeer.
Erfrischt, erquickt geht er nun weiter,
Begegnet sodann einem Reiter,
Der nimmt ihn hinter sich aufs Pferd,
Da er es höflich hat begehrt.
Nun geht es in Galopp und Trab
Durch Wälder und Berg auf Berg ab;
Bis Kasperl an sein Haus gelangt,
Wo ihn Frau Gretl froh empfangt,
Und auch die jungen Kasperlen
Von weitem aus dem Fenster seh’n;
Entgegen lauft ihm klein und groß
Und er steigt ab von seinem Ross,
Und alles aus dem ganzen Haus
Setzt sich voll Freuden zu dem Schmaus!
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Joachim Ringelnatz (1883-1934)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/ringelnatz.php
Die Suppe sprach...
Die Suppe sprach mit leisem Mund:
»Die Kinder mach' ich stark – gesund!
Wenn ihr’s nicht glaubt, so seid jetzt still
Und horcht, was ich erzählen will.
Im Wald, wo Wind und Wetter braust,
Hat eine Hexe einst gehaust,
Die hatte viele Kinderlein,
Die sperrte in den Wald sie ein,
Gab ihnen nichts zu essen mehr;
Die Kinder plagt’ der Hunger sehr.
Doch eine Fee, die wusste dies;
Darum sie Suppe regnen ließ.
Da kamen schnell die Kinderlein
Und fingen sie in Töpfchen ein,
Und wurden groß und kräftig sehr,
Die Hex’ konnt’ sie nicht halten mehr,
Und kamen glücklich in die Stadt –
Die Suppe sie gerettet hat!«
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Heinrich Hoffmann (1809-1894)
Der fliegende Robert
Wenn der Regen niederbraust,
Wenn der Sturm das Feld durchsaust,
Bleiben Mädchen oder Buben
Hübsch daheim in Ihren Stuben. -
Robert aber dachte: Nein!
Das muss draußen herrlich sein! -
Und im Felde patschet er
Mit dem Regenschirm umher.
Hui wie pfeift der Sturm und keucht,
Dass der Baum sich niederbeugt!
Seht! Den Schirm erfasst der Wind,
Und der Robert fliegt geschwind
Durch die Luft so hoch, so weit;
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
An die Wolken stößt er schon,
Und der Hut fliegt auch davon.
Schirm und Robert fliegen dort
Durch die Wolken immer fort.
Und der Hut fliegt weit voran,
Stößt zuletzt am Himmel an.
Wo der Wind sie hingetragen,
Ja, das weiß kein Mensch zu sagen.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Friedrich Rückert (1788-1866)
Das Männlein in der Gans
Das Männlein ging spazieren einmal
Auf dem Dach, ei seht doch!
Das Männlein ist hurtig, das Dach ist schmal,
Gib acht, es fällt noch.
Eh' sich's versieht, fällt's vom Dach herunter
Und bricht den Hals nicht, das ist ein Wunder.
Unter dem Dach steht ein Wasserzuber,
Hineinfällt's nicht schlecht;
Da wird es nass über und über,
Ei, das geschieht ihm recht.
Da kommt die Gans gelaufen,
Die wird's Männlein saufen.
Die Gans hat's Männlein 'nuntergeschluckt,
Sie hat einen guten Magen;
Aber das Männlein hat sie doch gedruckt,
Das wollt' ich sagen.
Da schreit die Gans ganz jämmerlich;
Das ist der Köchin ärgerlich.
Die Köchin wetzt das Messer,
Sonst schneidt's ja nicht:
Die Gans schreit so, es ist nicht besser,
Als dass man sie sticht;
Wir wollen sie nehmen und schlachten
Zum Braten auf Weihnachten.
Sie rupft die Gans und nimmt sie aus
Und brät sie,
Aber das Männlein darf nicht 'raus,
Versteht sich.
Die Gans wird eben gebraten;
Was kann's dem Männlein schaden?
Weihnachten kommt die Gans auf den Tisch
Im Pfännlein;
Der Vater tut sie 'raus und zerschneid't sie frisch.
Und das Männlein?
Wie die Gans ist zerschnitten,
Kriecht's Männlein aus der Mitten.
Da springt der Vater vom Tisch auf,
Da wird der Stuhl leer;
Da setzt das Männlein sich drauf
Und macht sich über die Gans her.
Es sagt: »Du hast mich gefressen,
Jetzt will ich dafür dich essen.«
Da isst das Männlein gewaltig drauf los,
Als wären's seiner sieben;
Da essen wir alle dem Männlein zum Trotz,
Da ist nichts übergeblieben
Von der ganzen Gans, als ein Tätzlein,
Das kriegen dort hinten die Kätzlein.
Nichts kriegt die Maus,
Das Märlein ist aus.
Was ist denn das?
Ein Weihnachts-Spaß;
Aufs Neujahr lernst
Du, was?
Den Ernst.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)
Der kleine Vogelfänger
Wart', Vöglein, wart'! Jetzt bist du mein,
Jetzt hab' ich dich gefangen,
In einem Käfig sollst du jetzt
An meinem Fenster hangen!
»Ach, lieber Bube, sag' mir doch,
Was hab' ich denn begangen,
Dass du mich armes Vögelein,
Dass du mich hast gefangen?« –
Ich bin der Herr, du bist der Knecht:
Die Tiere, die da leben,
Die sind dem Menschen allzumal
Und mir auch untergeben.
»Das, lieber Bube, glaub' ich nicht,
Das sollst du mir beweisen!« –
Schweig' still, schweig' still! sonst brat' ich dich
Und werde dich verspeisen! –
Der Knabe rannte schnell nach Haus,
Da fiel er von der Stiegen.
Das Vöglein flog zum Haus hinaus
Und ließ das Büblein liegen.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Erich Mühsam (1878-1934)
Die Tierphilosophen
Gott hatte die Welt für gut befunden
und verzog sich darauf für einige Stunden,
damit sich die Tiere der Zeiten bedächten,
womit sie die Zeit ihres Daseins verbrächten.
Die meisten besahen sich nur ihren Leib
und bestimmten darnach ihren Zeitvertreib.
Je, ob sie zwei-, vier- oder hundertbeinig,
war man sich schnell über alles einig.
Die wollten einzeln sein, die in Horden,
die wollten nach Süden gehen, die nach Norden -
die Vögel wollten in Lüften schweben,
die Würmer unter der Erde leben,
die Fische wollten im Wasser schwimmen,
die Gämsen hoch auf den Bergen klimmen,
und in kurzer Zeit hatten allesamt
einen Lebensplan und ein Weltenamt.
Und Gott sah hernieder zu seinem Volke
von seiner prächtigsten Purpurwolke.
Da sah er die Tiere schon alle am Werke
und freute sich seiner Schöpferstärke...
Nur eine Gruppe von seltsamen Vögeln
war noch dabei, ihren Weltplan zu regeln.
Das war die Familie der M a r a b u; -
Gott wunderte sich und sah ihnen zu.
Doch er vernahm kein Schnattern und kein Zanken, -
sie standen alle in tiefen Gedanken.
Es wusst noch keiner: sollten sie fliegen
oder sollten sie müßig im Wasser liegen?
Sollten sie Frösche und Kröten verzehren
oder sollten sie sich vegetarisch ernähren?
Sollten zum Schlaf sie im Wüstensand kauern
oder in Nestern an Kirchenmauern? ...
Sie senkten den Schnabel und hoben den Fuß, -
doch keiner kam zu einem Entschluss.
Da musste Gott sich denn selber bequemen,
den schwierigen Fall in die Hand zu nehmen.
Und er bedachte: den klügsten Geschöpfen
lastet stets der schwerste Verstand in den Köpfen
und lässt sie vor lauter Denken und Sinnen
nicht dazu kommen, ein Werk zu beginnen.
So sollten die Marabus mit ihrem Schweigen
der Welt ein Beispiel des Tiefsinns zeigen;
nicht hadern und zanken mit andern Tieren,
sondern allezeit nur philosophieren. --
Drum steht, den Schnabel tief gesenkt,
seitdem der Marabu und denkt,
und überlegt und sinnt und trachtet,
und wird von aller Welt geachtet.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Erich Mühsam (1878-1934)
Der kleine Kunstreiter
Max durfte in den Zirkus geh'n,
da gab es vielerlei zu seh'n:
Ganz große, wilde Tiere und
auch einen klugen Pudelhund,
der Karten legte - und ein Schwein,
das auf französisch "Oui" konnt' schrei'n.
Der dumme August macht' ihm Spaß,
der jedermann im Wege saß.
Besonders hat's ein Reitersmann
jedoch dem Mäxchen angetan.
Der stand auf seinem flinken Pferd
auf einem Bein und ritt verkehrt.
Dann war ein Seil da, das man schwang,
durch welches Ross und Reiter sprang.
Das war ein Kunststück - Donnerblitz! -
viel schöner noch als Augusts Witz ... .
Als Mäxchen dann nach Haus gekommen,
hat Gertruds Springtau er genommen.
Das gab er Fips und Stips ins Maul
und sattelte den Steckengaul.
Das Schwesterchen fasst an das Tau:
Nun, Mäxchen spring'! - Fips bellt: Wau, wau!
Die Schwester schwingt. - Max läuft. - Stips bellt. -
Nun, hops! - Max springt. Und - bums! - Er fällt.
Hier fliegt ein Schuh; da fliegt der Helm;
hier fliegt das Pferd; - da liegt der Schelm. -
Die Lehre hat dem Max gezeigt:
Kunstreiter sein ist nicht so leicht.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769)
Der Bauer und sein Sohn
Ein guter dummer Bauerknabe,
Den Junker Hans einst mit auf Reisen nahm,
Und der trotz seinem Herrn mit einer guten Gabe,
Recht dreist zu lügen, wieder kam:
Ging kurz nach der vollbrachten Reise
Mit seinem Vater über Land.
Fritz, der im Gehn recht Zeit zum Lügen fand,
Log auf die unverschämt'ste Weise.
Zu seinem Unglück kam ein großer Hund gerannt.
»Ja, Vater«, rief der unverschämte Knabe,
»Ihr mögt mir's glauben oder nicht:
so sag' ich's Euch und jedem ins Gesicht,
Dass ich einst einen Hund bei – Haag gesehen habe,
Hart an dem Weg, wo man nach Frankreich fährt,
Der – ja, ich bin nicht ehrenwert,
Wenn er nicht größer war als Euer größtes Pferd.«
»Das«, sprach der Vater, »nimmt mich wunder;
Wiewohl ein jeder Ort läßt Wunderdinge sehn.
Wir zum Exempel gehn itzunder
Und werden keine Stunde gehn:
So wirst du eine Brücke sehn,
(Wir müssen selbst darüber gehn)
Die hat dir manchen schon betrogen;
(Denn überhaupt soll's dort nicht gar zu richtig sein)
Auf dieser Brücke liegt ein Stein,
An den stößt man, wenn man denselben Tag gelogen,
Und fällt und bricht sogleich das Bein.«
Der Bub' erschrak, sobald er dies vernommen.
»Ach!« sprach er, »lauft doch nicht so sehr!
Doch wieder auf den Hund zu kommen,
Wie groß sag' ich, dass er gewesen wär'?
Wie Euer großes Pferd? Dazu will viel gehören.
Der Hund, itzt fällt mir's ein, war erst ein halbes Jahr;
Allein das wollt' ich wohl beschwören,
Dass er so groß, als mancher Ochse, war.«
Sie gingen noch ein gutes Stücke;
Doch Fritzen schlug das Herz. Wie konnt' es anders sein?
Denn niemand bricht doch gern ein Bein.
Er sah nunmehr die richterische Brücke
Und fühlte schon den Beinbruch halb.
»Ja Vater«, fing er an, »der Hund, von dem ich red'te,
War groß, und wenn ich ihn auch was vergrößert hätte:
So war er doch viel größer als ein Kalb.«
Die Brücke kommt. Fritz! Fritz! wie wird dir's gehen!
Der Vater geht voran; doch Fritz hält ihn geschwind.
»Ach Vater!« spricht er, »seid kein Kind
Und glaubt, dass ich dergleichen Hund gesehen.
Denn kurz und gut, eh' wir darüber gehen:
Der Hund war nur so groß, wie alle Hunde sind.«
Du musst es nicht gleich übel nehmen,
Wenn hie und da ein Geck zu lügen sich erkühnt.
Lüg' auch, und mehr als er, und such' ihn zu beschämen:
So machst du dich um ihn und um die Welt verdient.
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Volksgut
Das Hungerkind
Mutter, ach Mutter, es hungert mich;
Gib mir Brot, sonst sterbe ich!
»Warte nur, mein Kind,
Morgen woll'n wir säen geschwind!«
Und als das Korn gesäet war,
Da sprach das Kind noch immerdar:
Mutter, ach Mutter, es hungert mich:
Gib mir Brot, sonst sterbe ich!
»Warte nur, mein Kind,
Morgen woll'n wir ernten geschwind!«
Und als das Korn geerntet war,
Da sprach das Kind noch immerdar:
Mutter, ach Mutter, es hungert mich;
Gib mir Brot, sonst sterbe ich!
»Warte nur, mein Kind,
Morgen woll'n wir dreschen geschwind!«
Und als das Korn gedroschen war,
Da sprach das Kind noch immerdar:
Mutter, ach Mutter, es hungert mich;
Gib mir Brot, sonst sterbe ich!
»Warte nur, mein Kind,
Morgen woll'n wir mahlen geschwind!«
Und als das Korn gemahlen war,
Da sprach das Kind noch immerdar:
Mutter, ach Mutter, es hungert mich;
Gib mir Brot, sonst sterbe ich!
»Warte nur, mein Kind,
Morgen woll'n wir backen geschwind!«
Und als das Brot gebacken war,
Da lag das Kind auf der Totenbahr'.
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Detlev von Liliencron (1844-1909)
Ballade in U-dur
Es lebte Herr Kunz von Karfunkel
Mit seiner verrunzelten Kunkel
Auf seinem Schlosse Punkpunkel
In Stille und Sturm.
Seine Lebensgeschichte war dunkel,
Es murmelte manch Gemunkel
Um seinen Turm.
Täglich ließ er sich sehen
Beim Auf- und Niedergehen
In den herrlichen Ulmenalleen
Seines adlichen Guts.
Zuweilen blieb er stehen
Und ließ die Federn wehen
Seines Freiherrnhuts.
Er war just hundert Jahre,
Hatte schneeschlohweiße Haare
Und kam mit sich ins klare:
Ich sterbe nicht.
Weg mit der verfluchten Bahre
Und ähnlicher Leichenware!
Hol sie die Gicht!
Werd ich, neugiertrunken
Ins Gartengras hingesunken,
Entdeckt von dem alten Halunken,
Dann grunzt er plump:
Töw Sumpfhuhn, ick wil di glieks tunken
In den Uhlenpfuhl zu den Unken,
Du schrumpliger Lump.
Einst lag ich im Verstecke
Im Park an der Rosenhecke,
Da kam auf der Ulmenstrecke
Etwas angemufft.
Ich bebe, ich erschrecke:
Ohne Sense kommt mit Geblecke
Der Tod, der Schuft.
Und von der andern Seite,
Mit dem Krückstock als Geleite,
In knurrigem Geschreite,
Kommt auch einer her.
Der sieht nicht in die Weite,
Der sieht nicht in die Breite,
Geht gedankenschwer.
Hallo, du kleine Mücke,
Meckert der Tod voll Tücke,
Hier ist eine Gräberlücke,
Hinunter ins Loch!
Erlaube, dass ich dich pflücke,
Sonst hau ich dir auf die Perücke,
Oller Knasterknoch.
Der alte Herr, mit Grimassen,
Tut seinen Krückstock fest fassen:
Was hast du hier aufzupassen,
Du Uhu du!
Weg da aus meinen Gassen,
Sonst will ich dich abschrammen lassen
zur Uriansruh!
Sein Krückstock saust behände
Auf die dürren, gierigen Hände,
Die Knöchel- und Knochenverbände:
Knicksknucksknacks.
Freund Hein schreit: Au, mach ein Ende!
Au, au, ich lauf ins Gelände
Nach Haus schnurstracks.
Noch heut lebt Herr Kunz von Karfunkel
Mit seiner verrunzelten Kunkel
Auf seinem Schlosse Punkpunkel
In Stille und Sturm.
Seine Lebensgeschichte ist dunkel,
Es murmelt und raunt manch Gemunkel
Um seinen Turm.
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unbekannt
Entsetzlich
Es sitzt die Gräfin auf der Zinne ihrer Burgen,
Das Angesicht umflort von Kummer und von Surgen.
Halb welk ist schon die jugendliche Holde,
So schaut sie tief hinab auf das Gefolde.
Da blühet Alles in des Frühlings Prangen,
Und Jubel tönet von der Vöglein Zangen.
Die Rosen duften und die Nelken sprossen,
Und Philomele flötet aus Zyprossen.
Die Lerchen schmettern und die Käfer summen,
Da klagt die Gräfin: »Wann wird er wohl kummen?
Ob mich ein Dämon seiner wohl beraubet?
Wo säumt der Mann, den meine Seele laubet?
Ist er mir jetzt schon gram? Will er mir trotzen?
Dass er mich lässt auf dieser Zinne sotzen?
Bricht er die Treue, die er mir geschworen,
Bricht er die Treue schon nach dritthalb Johren?
Hab' ich's verschuldet, dass er meiner spottet?
War mein Geschick mit seinem nicht verkottet?«
So klagt die Gräfin und ihr Aug', ihr schwarzes,
Es rinnt im Übermaß des tiefsten Schmarzes.
Ihr Wort erstickt im bittersten Geschluchze,
Und in Verzweiflung fasst sie eine Buchse.
Sie spannt den Hahn - von Satanas verlocket -
Drückt los und - ach! - schon liegt sie hingestrocket.
Sie liegt entseelt, durchschossen auf dem Boden
Und neben ihr die Waffe, die sie selbst geloden.
Kaum aber hat ihr Leben sie verloren,
Sieht man auf's Schloss zu einen Ritter gallopporen.
Schon ist er da,- schon springt er von dem Rappen
Und eilt hinauf die langen Wandeltrappen.
Schon ist er auf der Zinne, ach! und sieht mit Schrecken
Die starre Leiche vor den starren Blecken.
Da stampft er wild den Boden mit den Stiefeln
Und ruft: »Warum, o Gräfin, mußtest du verzwiefeln?
Warum konnt'st du, o Holdeste der Holden,
Dich nicht noch einen Augenblick gedolden?
Und muss ich dich als blut'ge Leiche schauen,
Was soll ich in dieser Welt noch tauen?« -
Er spricht's,- es funkeln seine wilden Augen,
Und aus der Scheide zieht er seinen Daugen.
Und schwingt ihn keck und mit dem grimmsten Trotze
Stößt er sich in die Brust die scharfe Spotze.
Er sinket um mit einem Schmerzenslaute,
Und schon liegt er entseelt in seinem Blaute.
Mit Schrecken sieht man bald vom Zinnengatter
Den Leichnam von der Gräfin und dem Ratter.
Der Übereilung kann nichts Gutes nicht entwachsen;
O hüte dich vor Degen, Dolch und Bachsen!
Und wisse, dass sein Grab sich selber schaufelt,
Wer an dem eigenen Geschick verzwaufelt.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Julius Schmidt (19. Jahrhundert)
Eskimojade
Es lebt´ in dulci jubilo
in Grönland einst ein Eskimo.
Der liebt voll Liebeslust und Leid
die allerschönste Eskimaid,
und nennt in Garten sie und Haus
bald Eskimiez, bald Eskimaus
Im wunderschönen Eskimai
spazieren gingen froh die zwei,
geschminkt die Wangen purpurrot
wie's mit sich bringt die Eskimod
und setzten sich ganz sorgenlos
ins wunderweiche Eskimoos.
Still funkelte am Horizont
der silberklare Eskimond.
da schlich herbei aus dichtem Rohr
Othello, Grönlands Eskimohr.
In schwarzer Hand hielt fest den Dolch
der eifersücht'ge Eskimolch.
Und stach zwei- dreimal zu voll Wut
in frevelhaftem Eskimut.
Vom Dolch getroffen alle beid
sank Eskimo und Eskimaid.
Da rannt' im Sprunge des Galopps
herbei der treue Eskimops
Und biss mit seinen Zähnen stark
den Mörder bis ins Eskimark,
der bald, zerfleischt vom treuen Hund
für immer schloss den Eskimund.
So ward, das ist der Schlussakkord
gerächt der blut'ge Eskimord
und schaurig klingt von Norden her
noch heut'gen Tags die Eskimähr!
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Hermann von Gilm (1812-1864)
Die Mutter
Leise atmend, halb entschlummert
Liegt das Kind im Bettchen klein,
Plötzlich durch das offne Fenster
Schaut der Abendstern herein.
Und nach ihm mit beiden Händen
Laut aufweinend langt das Kind:
"Mutter, Mutter, hol' mir diesen
Schönen Stern herab geschwind!"
"Dummheit!" ruft der Vater zornig
Hinter einem Zeitungsblatt,
"Was der Fratz von dritthalb Jahren
Für verrückte Launen hat!
Denk' man: dreißig Millionen
Meilen weg und ein Planet,
Der zweihundertvierundzwanzig
Tage um die Sonne geht!"
Doch die Mutter tröstet leise:
"Schlaf', mein Engel! Diese Nacht
Hol' ich dir den Stern vom Himmel,
Der dir so viel Freude macht;
Morgen früh, hier auf dem Bette
Findest du den Edelstein" -
Und das Kind, in Tränen lächelnd,
Schläft am Mutterherzen ein.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Joachim Ringelnatz (1883-1934)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/ringelnatz.php
Das Samenkorn
Ein Samenkorn lag auf dem Rücken,
Die Amsel wollte es zerpicken.
Aus Mitleid hat sie es verschont
Und wurde dafür reich belohnt.
Das Korn, das auf der Erde lag,
Das wuchs und wuchs von Tag zu Tag.
Jetzt ist es schon ein hoher Baum
Und trägt ein Nest aus weichem Flaum.
Die Amsel hat das Nest erbaut;
Dort sitzt sie nun und zwitschert laut.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Friedrich Rückert (1788-1866)
Märchen
Ich weiß ein schönes Märchen.
Es war ein schönes Pärchen,
Hieß Hänselchen und Klärchen,
Die pflückten Blum' und Ährchen,
Und aßen reife Beerchen.
Das Klärchen hatt' ein Härchen,
Das Hänselchen ein Scherchen;
Das war ein goldnes Härchen,
Und das ein silbern Scherchen.
Das Hänselchen nahm Klärchen,
Schnitt mit dem Silberscherchen
Ihr das goldne Härchen;
Da ging das goldne Härchen
Entzwei am Silberscherchen;
Da ging das Silberscherchen
Entzwei am goldnen Härchen.
Da weinte laut das Klärchen
Um ihr verlornes Härchen,
Und Hänschen mit dem Klärchen
Um sein zerbrochnes Scherchen;
Laut weinte das Pärchen
Um Härchen und Scherchen;
Gar viele, viele Zährchen.
Laut weinten Blum' und Ährchen
Und alle reifen Beerchen,
Zusammen mit dem Pärchen
Um Härchen und Scherchen.
Da saß im Busch ein Stärchen,
Das sah die vielen Zährchen,
Da sprach das kluge Stärchen:
Was weint ihr denn, ihr Närrchen?
Das Härchen und das Scherchen,
Die Zährchen und die Ährchen,
Die Beerchen, und du Pärchen,
Und ich dazu, das Stärchen,
Sind alles nur ein Märchen.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~