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Gottlieb Konrad Pfeffel (1736-1809)
Die Maden
Ein wimmelnder Konvent von Käsemaden
Ergoss bei seinem Abendschmaus
Sich in bitterste Jeremiaden:
Man muss gestehn, so rief er aus,
Dass niemand in der Kunst zu schaden
Dem Menschen gleicht. Es ist ihm nicht genug,
Dass er sich von dem Käse nähret,
Der uns beherbergt; oft wird ohne Fug
Auch unsre ganze Brut mit aufgezehret,
Die Kannibalen! Ei ihr dürftet sie,
Sprach hier das Oberhaupt der Kolonie,
Im Grunde darum nicht beneiden;
Denn wisst, wenn sie zu Grabe gehen,
So werden wir in ihren Eingeweiden
Nach wenig Tagen auferstehn,
Und unsere Rache nicht vergessen,
Wer andre frisst, wird endlich auch gefressen.
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Hans-Peter Kraus (geb. 1965)
www.das-poetische-stacheltier.de/dichter-einzeln-1.php
Die Scheidung der Geister
Woran erkennt man jene, die verrückt sind?
Wenn welche nach ein paar heißen Tagen
das Unkraut zwischen den Gehsteigplatten
gießen, daran erkennt man jene, die verrückt sind.
Woran erkennt man jene, die das Leben lieben?
Wenn welche nach ein paar heißen Tagen
das Unkraut zwischen den Gehsteigplatten
gießen, daran erkennt man jene, die das Leben lieben.
Worin besteht
der Unterschied?
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Wilhelm Busch (1832-1908)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/wilhelm_busch.php
Die Selbstkritik...
Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetzt den Fall, ich tadle mich,
So hab ich erstens den Gewinn,
Dass ich so hübsch bescheiden bin;
Zum zweiten denken sich die Leut,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp ich drittens diesen Bissen
vorweg den andren Kritiküssen;
Zum vierten hoff ich außerdem
Auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es dann zuletzt heraus,
Dass ich ein ganz famoses Haus.
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Matthias Claudius (1740-1815)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/matthias_claudius.php
Die Sternseherin Lise
Ich sehe oft um Mitternacht,
Wenn ich mein Werk getan
Und niemand mehr im Hause wacht,
Die Stern' am Himmel an.
Sie gehn da, hin und her zerstreut
Als Lämmer auf der Flur;
In Rudeln auch, und aufgereiht
Wie Perlen an der Schnur.
Und funkeln alle weit und breit
Und funkeln rein und schön;
Ich seh’ die große Herrlichkeit
Und kann mich satt nicht sehn ...
Dann saget unterm Himmelszelt
Mein Herz mir in der Brust:
“Es gibt was Bessers in der Welt
Als all ihr Schmerz und Lust.“
Ich werf mich auf mein Lager hin,
Und liege lange wach,
Und suche es in meinem Sinn:
Und sehne mich darnach.
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Christian Morgenstern (1871-1914)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/morgenstern.php
Die unmögliche Tatsache
Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.
Wie war (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
möglich, wie dies Unglück, ja -:
dass es überhaupt geschah?
Ist die Staatskunst anzuklagen
in Bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Trift?
Oder war vielmehr verboten
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln - kurz und schlicht:
Durfte hier der Kutscher nicht -?
Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!
Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.
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Rainer Maria Rilke (1875-1926)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/rilke.php
Eingang
Wer du auch seist: am Abend tritt hinaus
aus deiner Stube, drin du alles weißt;
als letztes vor der Ferne liegt dein Haus:
wer du auch seist.
Mit deinen Augen, welche müde kaum
von der verbrauchten Schwelle sich befrein,
hebst du ganz langsam einen schwarzen Baum
und stellst ihn vor den Himmel: schlank, allein.
Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß
und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift.
Und wie dein Wille ihren Sinn begreift,
lassen sie deine Augen zärtlich los...
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Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/goethe.php
Ginkgo Biloba
Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie's den Wissenden erbaut.
Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als eines kennt?
Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich eins und doppelt bin?
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Franz Werfel (1890-1945)
Ich habe eine gute Tat getan
Herz, frohlocke!
Ich habe eine gute Tat getan.
Nun bin ich nicht mehr einsam.
Ein Mensch lebt,
Es lebt ein Mensch,
Dem die Augen sich feuchten,
Denkt er an mich.
Herz, frohlocke:
Es lebt ein Mensch!
Nicht mehr, nein, nicht mehr bin ich einsam,
Denn ich habe eine gute Tat getan.
Nun haben die seufzenden Tage ein Ende.
Tausend gute Taten will ich tun!
Ich fühle schon,
Wie mich alles liebt,
Weil ich alles liebe.
Hinström ich voll Erkenntniswonne.
Du mein letztes, süßestes,
Klarstes, reinstes, schlichtestes Gefühl:
Wohlwollen!
Tausend gute Taten will ich tun.
Schönste Befriedigung
wird mir zuteil:
Dankbarkeit,
Dankbarkeit der Welt.
Stille Gegenstände,
Werfen sich mir in die Arme.
Stille Gegenstände,
Die ich in einer erfüllten Stunde
Wie brave Tiere streichele.
Mein Schreibtisch knarrt,
Ich weiß, er will mich umarmen.
Das Klavier versucht mein Lieblingsstück zu tönen,
Geheimnisvoll und ungeschickt
Klingen alle Saiten zusammen.
Das Buch, das ich lese,
Blättert von selbst sich auf.
Ich habe eine gute Tat getan.
Einst will ich durch die grüne Natur wandern,
Da werden mich die Bäume
Und Schlingpflanzen verfolgen.
Die Kräuter und Blumen
Holen mich ein,
Tastende Wurzeln umfassen mich schon,
Zärtliche Zweige
Binden mich fest,
Blätter überrieseln mich,
Sanft wie ein dünner,
Schütterer Wassersturz.
Viele Hände greifen nach mir,
Viele grüne Hände,
Ganz umnistet
Von Liebe und Lieblichkeit
Steh ich gefangen.
Ich habe eine gute Tat getan,
Voll Freude und Wohlwollens bin ich
Und nicht mehr einsam,
Nein, nicht mehr einsam.
Frohlocke, mein Herz!
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Georg Herwegh (1817-1875)
Ich stand auf einem Berg...
Ich stand auf einem Berg, da hört' ich singen
Zur Linken plötzlich ernste, trübe Lieder;
Ein Opfer war es für die Erde wieder,
Ich kannte wohl der Glocke dumpfes Klingen.
Zur Rechten sah ich einen Säugling bringen;
Wie eines Schmetterlinges bunt Gefieder,
Viel lust'ge Bänder wehten auf und nieder,
Ein Glöckchen wollt' vor Freude schier zerspringen.
Die Andacht wagt' kein Wesen rings zu stören:
Die Herden hielten still auf ihren Weiden,
Wie fromme Beter flüsterten die Föhren.
Als ob die Glocken sich umarmt, die beiden,
Konnt' ich bald einen süßen Klang nur hören
Und Tod und Leben nicht mehr unterscheiden.
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Hans-Peter Kraus (geb. 1965)
www.das-poetische-stacheltier.de/dichter-einzeln-1.php
Ich töte dich
Ich töte dich, weil du ein Kind vergewaltigt hast.
Ich töte dich, weil ich dich liebe.
Ich töte dich, damit du mich nicht tötest.
Ich töte dich im Namen Pupols des Zweiten.
Ich töte dich, weil mir die Zigaretten ausgegangen sind.
Ich töte dich, weil heute der 8. November ist.
Ich töte dich im Namen des Herrn.
Ich töte dich, um meinen Bruder zu rächen.
Ich töte dich, weil du eine Frau bist.
Ich töte dich, weil meine Mannschaft verloren hat.
Ich töte dich, um berühmt zu werden.
Ich töte dich im Namen des Volkes.
Ich töte dich, weil du der Feind bist.
Ich töte dich, weil ich Köpfe sammle.
Ich töte dich, weil es mir befohlen wurde.
Ich töte dich, um dich zu erlösen.
Ich töte dich, weil du zu viel Geld hast.
Ich töte dich, weil mir keine andere Wahl bleibt.
Ich töte dich im Namen der Gerechtigkeit.
Ich töte dich, weil ich schlechte Laune habe.
Ich töte dich, weil du ein Ungläubiger bist.
Ich töte dich, um mein Eigentum zu verteidigen.
Ich töte dich, weil du nicht gehorcht hast.
Ich töte dich, weil’s Spaß macht.
Ich töte dich, weil ich dich hasse.
Ich töte dich, weil ich als Kind geschlagen wurde.
Ich töte dich im Namen der Revolution.
Ich töte dich, damit es regnet.
Ich töte dich, um mein Gewehr auszuprobieren.
Ich töte dich, weil du schlecht bist.
Ich töte dich, weil ich es kann.
Fortsetzung folgt …
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Marie Ebner-Eschenbach (1830-1916)
Im Kreise
Das eilende Schiff, es kommt durch die Wogen
wie Sturmwind geflogen.
Mit Jubel verkünden der Stimmen gar viele:
Wir nahen dem Ziele!
Der Fährmann am Steuer nur stöhnet leise:
Wir segeln im Kreise! –
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Gottfried von Straßburg (gestorben ca. 1220)
Leuten und Land...
Liute unde lant die mohten mit genâden sîn,
wan zwei vil kleiniu wortelîn ‘mîn' unde ‘dîn',
diu briuwent michel wunder ûf der erde.
wie gânt si vrüetende und wüetende über al
und trîbent al die wélt úmbe als einen bal:
ich waene, ir krieges iemer ende werde.
Diu vertâne gîte
diu wahset allez umbe sich dâher sît Êven zîte
und irret elliu herze und elliu rîche.
dewander hant noch zunge
die méinènt noch minnent niht wan valsch und anderunge.
lêre und volge liegent offenlîche.
Leuten und Land könnte es passabel ergehen,
gäb's nicht die winzigen Wörtchen mein und dein,
die auf der Erde höchst Wunderliches zusammenbrauen!
Wie stapfen sie überall rüstig und verheerend
und treten die Welt umher wie einen Ball.
Ich glaube, dass ihr Krieg nie enden wird.
Die völlig überflüssige Habgier
wächst um alles seit Evas Zeiten,
macht alle Herzen und Reiche irre.
Weder Hand noch Zunge
erstreben und lieben anderes als Falschheit Zerteilung Umsturz.
Die Lehren und Wirkungen liegen offen.
(aus dem Mittelhochdeutschen von Wersch)
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Paul Heyse (1839-1914)
Mut der Feigheit
Da werfen sie ohne sich zu schämen
Die Flinte gleich ins Korn hinein.
Wo die Leute nur den Mut hernehmen,
So ungeheuer feige zu sein!
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Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/goethe.php
Natur und Kunst
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen,
Und haben sich, eh' man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemess'nen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
So ist's mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muss sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
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Wilhelm Busch (1832-1908)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/wilhelm_busch.php
Nicht artig
Man ist ja von Natur kein Engel,
Vielmehr ein Welt- und Menschenkind,
Und rings umher ist ein Gedrängel
Von solchen, die dasselbe sind.
In diesem Reich geborner Flegel,
Wer könnte sich des Lebens freun,
Würd' es versäumt, schon früh die Regel
Der Rücksicht kräftig einzubläun.
Es saust der Stock, es schwirrt die Rute.
Du darfst nicht zeigen, was du bist.
Wie schad, o Mensch, dass dir das Gute
Im Grunde so zuwider ist.
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