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Religiöse Gedichte – Dichter 1 2 3 · Titel 1 2 3 · Beliebteste · Neueste

Emanuel Geibel (1815-1884)

Nachts am Meere

Es schlief das Meer und rauschte kaum
Und war doch allen Schimmers voll,
Der durch der Wolken Silberflaum
Vom lichten Monde niederquoll;
Im Blau verschwamm die ferne Flut,
Wie Bernstein flimmerte der Sand;
Ich aber schritt in ernstem Mut
Hinunter und hinauf den Strand.

O was in solcher stillen Nacht
Durch eine Menschenseele zieht,
Bei Tag hat’s keiner nachgedacht,
Und spricht es aus kein irdisch Lied.
Es ist ein Hauch, der wunderbar
Aus unsrer ew’gen Heimat weht,
Ein innig Schauen tief und klar,
Ein Lächeln halb und halb Gebet.

Da spürst du still und körperlos
Ein segnend Walten um dich her,
Du fühlst, du ruhst in Gottes Schoß,
Und wo du wandelst, wallt auch er;
Die Tränen all sind abgetan,
Die Dornen tragen Rosenglut,
Es taucht die Liebe wie ein Schwan
Aus deines Lebens dunkler Flut.

Und was am schwersten dich bedroht,
Dir zeigt’s ein liebes Angesicht.
Zum Freiheitsherold wird der Tod,
Der deines Wesens Siegel bricht;
Du schaust ins Aug’ ihm still vertraut,
Von heil’gem Schauder nur berührt,
Gleichwie ein Bräut’gam, den die Braut
Zum seligsten Geheimnis führt.

Genug, genug! Halt ein, mein Lied!
Denn was bei Nacht und Mondenlicht
Durch eine Menschenseele zieht,
Das sagt kein irdisches Gedicht;
Ein Hauch ist’s, der da wunderbar
Von Edens Friedenspalmen weht,
Ein wortlos Schauen tief und klar,
Ein Lächeln halb und halb Gebet.

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Friedrich Rückert (1788-1866)

O fühle: was du hast...

O fühle: was du hast, das hast du nur empfangen;
Und lass, wie dir es kam, es andern zugelangen.
Sei wie der Mond, der von der Sonn’ entlehnt sein Licht
Und leiht’s der Erdennacht, für sich behält er’s nicht.
Gott ist die Sonne, die lässt ewig Licht ausgehn,
Um hell die Welt und sich hell in der Welt zu sehn.

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Emanuel Geibel (1815-1884)

Ostermorgen

Die Lerche stieg am Ostermorgen
Empor ins klarste Luftgebiet
Und schmettert', hoch im Blau verborgen,
Ein freudig Auferstehungslied,
Und wie sie schmetterte, da klangen
Es tausend Stimmen nach im Feld:
Wach auf, das Alte ist vergangen,
Wach auf, du froh verjüngte Welt!

Wacht auf und rauscht durchs Tal, ihr Bronnen,
Und lobt den Herrn mit frohem Schall!
Wacht auf im Frühlingsglanz der Sonnen,
Ihr grünen Halm' und Läuber all!
Ihr Veilchen in den Waldesgründen,
Ihr Primeln weiß, ihr Blüten rot,
Ihr sollt es alle mit verkünden:
Die Lieb' ist stärker als der Tod.

Wacht auf, ihr trägen Menschenherzen,
Die ihr im Winterschlafe säumt,
In dumpfen Lüsten, dumpfen Schmerzen
Ein gottentfremdet Dasein träumt.
Die Kraft des Herrn weht durch die Lande
Wie Jugendhauch, o laßt sie ein!
Zerreißt wie Simson eure Bande,
Und wie der Adler sollt ihr sein.

Wacht auf, ihr Geister, deren Sehnen
Gebrochen an den Gräbern steht,
Ihr trüben Augen, die vor Tränen
Ihr nicht des Frühlings Blüten seht,
Ihr Grübler, die ihr fern verloren
Traumwandelnd irrt auf wüster Bahn,
Wacht auf! Die Welt ist neugeboren,
Hier ist ein Wunder, nehmt es an!

Ihr sollt euch all des Heiles freuen,
Das über euch ergossen ward!
Es ist ein inniges Erneuen
Im Bild des Frühlings offenbart.
Was dürr war, grünt im Wehn der Lüfte,
Jung wird das Alte fern und nah,
Der Odem Gottes sprengt die Grüfte –
Wacht auf! der Ostertag ist da.

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Georg Trakl (1887-1914)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/georg_trakl.php

Psalm

Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat.
Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verlässt.
Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen.
Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben.
Der Wahnsinnige ist gestorben. Es ist eine Insel der Südsee,
Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln.
Die Männer führen kriegerische Tänze auf.
Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen,
Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies.
Die Nymphen haben die goldenen Wälder verlassen.
Man begräbt den Fremden. Dann hebt ein Flimmerregen an.
Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters,
Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft.
Es sind kleine Mädchen in einem Hof in Kleidchen voll herzzerreißender Armut!
Es sind Zimmer, erfüllt von Akkorden und Sonaten.
Es sind Schatten, die sich vor einem erblindeten Spiegel umarmen.
An den Fenstern des Spitals wärmen sich Genesende.
Ein weißer Dampfer am Kanal trägt blutige Seuchen herauf.
Die fremde Schwester erscheint wieder in jemands bösen Träumen.
Ruhend im Haselgebüsch spielt sie mit seinen Sternen.
Der Student, vielleicht ein Doppelgänger, schaut ihr lange vom Fenster nach.
Hinter ihm steht sein toter Bruder, oder er geht die alte Wendeltreppe herab.
Im Dunkel brauner Kastanien verblasst die Gestalt des jungen Novizen.
Der Garten ist im Abend. Im Kreuzgang flattern die Fledermäuse umher.
Die Kinder des Hausmeisters hören zu spielen auf und suchen das Gold des Himmels.
Endakkorde eines Quartetts. Die kleine Blinde läuft zitternd durch die Allee,
Und später tastet ihr Schatten an kalten Mauern hin, umgeben von Märchen und heiligen Legenden.
Es ist ein leeres Boot, das am Abend den schwarzen Kanal heruntertreibt.
In der Düsternis des alten Asyls verfallen menschliche Ruinen.
Die toten Waisen liegen an der Gartenmauer.
Aus grauen Zimmern treten Engel mit kotgefleckten Flügeln.
Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern.
Der Platz vor der Kirche ist finster und schweigsam, wie in den Tagen der Kindheit.
Auf silbernen Sohlen gleiten frühere Leben vorbei
Und die Schatten der Verdammten steigen zu den seufzenden Wassern nieder.
In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen.
Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen.

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Psalm Davids

Psalm 8

HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, du, den man lobt im Himmel!
Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:
was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschenkind, dass du sich seiner annimmst?
Du hast ihn wenig niedriger gemacht denn Gott, und mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt.
Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füße getan:
Schafe und Ochsen allzumal, dazu auch die wilden Tiere,
die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und was im Meer geht.
HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!

(Psalm Nr. 8, Vers 2-10; aus dem Hebräischen von Martin Luther, revidiert 1912)

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Henry David Thoreau (1817-1862)

Rauch

Leicht-geflügelter Rauch, Ikarischer Vogel,
dem die Fittiche im Aufflug schmelzen;
Lerche ohne Gesang und Bote der Dämmerung,
der über den nistenden Weilern kreist;
oder auch scheidender Traum und Schattengestalt
der Mitternacht, die deine Röcke aufrafft;
in der Nacht verschleierst du die Sterne und am Tag
verdunkelst du das Licht und radierst die Sonne aus:
Steige du, mein Weihrauch, von diesem Herd auf
und bitte die Götter, diese reine Flamme zu verzeihen.

(aus dem Englischen von Wersch)

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Christian Morgenstern (1871-1914)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/morgenstern.php

Sieh nicht, was andre tun...

Sieh nicht, was andre tun,
der andern sind so viel,
du kommst nur in ein Spiel,
das nimmermehr wird ruhn.

Geh einfach Gottes Pfad,
lass nichts sonst Führer sein,
so gehst du recht und grad,
und gingst du ganz allein.

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Laotse (zwischen 600 u. 400)

Taoteking 34

Das große Tao ist überströmend,
es kann links sein und rechts.
Alle Wesen verlassen sich auf es,
um zu leben, und es versagt nicht.

Ist Verdienstliches vollendet,
nennt es dies nicht sein.
Es liebt und nährt alle Wesen
und macht sich nicht Herr.

Ewig ohne Verlangen,
so kann es klein genannt werden.
Alle Wesen kehren sich (zu ihm),
und es macht sich nicht Herr,
so kann es groß genannt werden.

Daher:
Der heilige Mensch macht sich nie groß,
darum kann er seine Größe vollenden.

(aus dem Chinesischen von Victor von Strauß und Torney)

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Laotse (zwischen 600 u. 400)

Taoteking 47

Ohne aus der Tür zu gehen,
kennt man die Welt.
Ohne aus dem Fenster zu schauen,
sieht man den SINN des Himmels.
Je weiter einer hinausgeht,
desto geringer wird sein Wissen.

Darum braucht der Berufene nicht zu gehen
und weiß doch alles.
Er braucht nicht zu sehen
und ist doch klar.
Er braucht nichts zu machen
und vollendet doch.

(aus dem Chinesischen von Richard Wilhelm)

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Laotse (zwischen 600 u. 400)

Taoteking 7

Der Himmel ist bleibend und die Erde dauernd.
Himmel und Erde können deshalb bleibend und dauernd sein,
weil sie sich nicht selbst leben.

Darum können sie bleiben und dauern.

Daher:
Der heilige Mensch setzt sein Selbst hintan,
und sein Selbst kommt voran;

er entäußert sich seines Selbst,
und sein Selbst wird bewahrt.

Ist es etwa nicht so,
weil er nichts eigen hat,
darum kann er sein Eigen vollenden.

(aus dem Chinesischen von Victor von Strauß und Torney)

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Wilhelm Busch (1832-1908)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/wilhelm_busch.php

Überliefert

Zu Olims Zeit, auf der Oase
Am Quell, wo schlanke Palmen stehen,
Saß einst das Väterchen im Grase
Und hatte allerlei Ideen.

Gern sprach davon der Hochverehrte
Zu seinen Söhnen, seinen Töchtern,
Und das Gelehrte, oft Gehörte
Ging von Geschlechte zu Geschlechtern.

Auch wir in mancher Abendstunde,
Wenn treue Liebe uns bewachte,
Vernahmen froh die gute Kunde
Von dem, was Väterchen erdachte.

Und sicher klingt das früh Gewusste
So lang in wohlgeneigte Ohren,
Bis auf der kalten Erdenkruste
Das letzte Menschenherz erfroren.

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Friedrich Rückert (1788-1866)

Vom Guten zum Bösen...

Vom Guten zum Bösen ist kein Sprung,
Der Übergang ist unmerklich gemacht,
Wie der Tag durch die Dämmerung
Sich verliert in die Nacht.

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Angelus Silesius (1624-1677)

Wenn die Himmelfahrt vorhanden

Wenn Gott in dir geborn, gestorben und erstanden,
So freue dich, dass bald die Himmelfahrt vorhanden.

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Rainer Maria Rilke (1875-1926)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/rilke.php

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre...

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen –:

Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.

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Rainer Maria Rilke (1875-1926)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/rilke.php

Werkleute sind wir...

Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.

Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen hängt der Hammer schwer,
bis eine Stunde uns die Stirnen küsste,
die strahlend und als ob sie Alles wüsste
von dir kommt, wie der Wind vom Meer.

Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß.
Erst wenn es dunkelt lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern.

Gott, du bist groß.

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Aischylos (525-456 v.u.Z.)

Zeus, wer Zeus auch immer möge sein...

Zeus, wer Zeus auch immer möge sein,
Ist er dieses Namens froh,
Will ich gern ihn nennen so;
Ihm vergleichen kann ich nichts,
Wenn ich alles auch erwäg,
Außer ihm selbst — so des Denkens vergebliche Qualen
Ich in Wahrheit bannen will!

Nicht, der ehedem gewaltig war,
Allbewehrten Trotzes hehr —
Dass er war, wer weiß es mehr!
Der darauf erstand, dem All-
Sieger unterlag auch der;
Aber den Zeus im Gesänge des Sieges zu preisen,
Alles Denkens Frieden ists,

Ihn, der uns des Denkens Weg
Führt zum Lernen durch das Leid,
Unter dies Gesetz uns stellt!
Ruhlos statt des Schlafs quält das Herz
Leidgedenk neu sich stets: auch starrem Sinn
Ist die Einsicht noch genaht.
Das ist Götterhuld! Erhaben steuern
Sie die Welt mit harter Hand.

(Aus einem Chorlied der Tragödie "Agamemnon". Übersetzt aus dem Altgriechischen von Johann Gustav Droysen.)

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Eduard Mörike (1804-1875)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/moerike.php

Zum neuen Jahr

Wie heimlicher Weise
Ein Engelein leise
Mit rosigen Füßen
Die Erde betritt,
So nahte der Morgen.
Jauchzt ihm, ihr Frommen,
Ein heilig Willkommen,
Ein heilig Willkommen!
Herz, jauchze du mit!

In Ihm sei's begonnen,
Der Monde und Sonnen
An blauen Gezelten
Des Himmels bewegt.
Du, Vater, du rate!
Lenke du und wende!
Herr, dir in die Hände
Sei Anfang und Ende,
Sei alles gelegt!

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