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Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Letzter Abend im Jahr
Es ist so dunkel heut,
Man kann kaum in den Abend sehen.
Ein Lichtchen loht,
Verspieltes Himmelchen spielt Abendrot
Und weigert sich, in seine Seligkeit zu gehen.
- So alt wird jedes Jahr die Zeit -
Und die vorangegangene verwandelte der Tod.
Mein Herz blieb ganz für sich
Und fand auf Erden keinen Trost.
Und bin ich auch des Mondes Ebenich,
Geleitetest auch du im vorigen Leben mich,
Und sah ich auch den blausten Himmel in Gottost.
Es ruhen Rand an Rand einträchtig Land und Seeen,
- Das Weltall spaltet sich doch nicht -,
D Gott, wie kann der Mensch verstehen,
Warum der Mensch haltlos vom Menschtum bricht,
Sich wieder sammeln muss im höheren Geschehen.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Max Hartung (1857-1932)
Silvesternacht
Die Glocken tönen durch die Nacht,
Du lauschest ihrem Klingen;
Das Jahr, das du herangewacht,
Was wird das neue bringen?
Kein Glockenlaut, kein Menschenmund,
Noch der Gestirne Kreisen
Vermag auf Gottes Erdenrund
Die Zukunft dir zu weisen!
Drum frag dich selbst! Das Jahr wird gut,
Gehst du auf rechten Wegen,
In deinem Tun und Lassen ruht
Des neuen Jahres Segen.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Joachim Ringelnatz (1883-1934)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/ringelnatz.php
Silvester
Es gibt bei Armen und Reichen
So manche Herzen bang und still;
Aus manchem dieser Herzen will
Die Sorge nimmer weichen.
Ich bin einer neuen Idee auf der Spur
Und überlege sie sehr:
Man sollte armen Leuten nur
Gutes tun oder sagen,
Ohne vorher oder hinterher
Nach ihnen zu fragen.
Wer hat das wohl zuerst bestellt,
Was nun so glatt sich leiert:
Dass jeder Stand und alle Welt
Terminlich trauert und feiert.
So wünschlein-pünschlein den andern gleich
Will ich mich nüchtern betrinken,
Um gegen Morgen durchs Federweich
In Kaktusträume zu sinken.
Etwa: Dass eine Mutschekuh,
Die vollgefressen mit Heu war,
Mein Zimmer betrat und rief mir zu:
»Prost Neujahr, Herr Doktor, prost Neujahr!«
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Heinrich Hoffmann (1809-1894)
Dezember
Er ist der letzte von zwölf Brüdern,
Des Jahres Pforte schließt er zu.
Was du gewonnen hast an Gütern
Und was verloren, zähle du!
Doch wäge strenger und besonnen,
Und schließ genaue Rechnung ab,
Was du an Weisheit hast gewonnen,
Und was an Torheit sich ergab.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Hans Retep (geb. 1956)
www.ziemlichkraus.de/hans-retep/gedichte_silvester_neujahr.php
Silvester, Silvester
Silvester, Silvester
Lass knallen mein Bester
Hinaus mit dem alten Jahr
Und hast du noch Fragen
Hör auf dich zu plagen
Das neue wird wunderbar
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Hans Retep (geb. 1956)
www.ziemlichkraus.de/hans-retep/gedichte_silvester_neujahr.php
Silvestergedanken
Was kommt?
Was wird?
So fragt man mit Beben
ein jedes Jahr.
Es irrt,
wer glaubt,
das Leben sei Leben
ohne Gefahr.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)
Neujahrslied
So singen wir, so trinken wir
Uns froh hinein ins neue Jahr.
Wir lassen drüben Gram und Leid,
Und nehmen mit die Fröhlichkeit
Ins neue Jahr.
So singen wir, so trinken wir
Uns froh hinein ins neue Jahr.
Die Freundschaft geht von selber mit,
Begleitet treu uns Schritt für Schritt
Ins neue Jahr.
So singen wir, so trinken wir
Uns froh hinein ins neue Jahr.
Die Hoffnung wartet unser dort,
Sie sprach: »Kommt mit! ich ziehe fort
Ins neue Jahr.«
So singen wir, so trinken wir
Uns froh hinein ins neue Jahr.
Drum, wer's nicht froh beginnen kann,
Der fang es lieber gar nicht an,
Das neue Jahr!
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Louise Otto (1819-1895)
Jahreswechsel
Wenn hoch vom Turm die Glocken klingen,
In mitternächtlich ernster Stund'
Des Jahres Scheidegruß zu bringen:
Dann lauschen wir, als werd' uns kund,
Was nun der neue Lauf der Horen
Uns Erdenpilgern bieten mag -
Das Jahr ward neuverjüngt geboren
Und festlich grüßt sein erster Tag.
Doch ist vergeblich alles Fragen,
Die Antwort lautet immer gleich:
Propheten sind aus unsern Tagen
Verbannt ins dunkle Sagenreich.
Kein Blick darf in die Werkstatt schweifen,
In der des Menschen Los sich webt,
Kein Arm in das Getriebe greifen,
Das Schicksals-Fäden senkt und hebt!
Das mussten alle wir erfahren
In unsrer Lieben engem Kreis -
Gebrochen müssen wir gewahren
Manch hoffnungsgrüne frisches Reis,
Und wo wir's ahnend kaum vermutet,
Da kam uns Rettung aus der Not,
Indessen dort ein Herz verblutet
Weil ihm sein Liebstes nahm der Tod!
Nur eitel ist das ird'sche Hoffen
Das sich an äußre Zeichen hält,
Ist nicht in uns ein Himmel offen,
Von dem kein Stern herunterfällt.
Wie sehr auch Sturm und Donner wettert
Und frische Hoffnungssaat zerschlägt
Und alle Rosen uns entblättert,
Wie Staub in alle Winde trägt.
Ein Himmel, den wir sicher schauen,
Wenn sich der Blick nur aufwärts hebt,
Ein Himmel, den wir selber bauen,
Wenn wir zum höchsten Ziel gestrebt,
Ein Himmel, draus seit Ewigkeiten
Zu uns die Schöpfungsformel spricht,
Die heiligste für alle Zeiten
Kein Chaos mehr! - es werde Licht!
Kein Chaos mehr - in unserm Leben,
Kein Chaos mehr im Vaterland!
Es werde Licht, - dies unser Streben,
Die Waffe dies in unsrer Hand
Des Gottesfunkens treue Wächter
An heil'ger Freiheit Hochaltar,
Und Feinde aller Lichtverächter:
So grüßen wir das neue Jahr.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)
Am letzten Tage des Jahres
Das Jahr geht um,
Der Faden rollt sich sausend ab.
Ein Stündchen noch, das letzte heut,
Und stäubend rieselt in sein Grab,
Was einstens war lebend'ge Zeit.
Ich harre stumm.
's ist tiefe Nacht!
Ob wohl ein Auge offen noch?
In diesen Mauern rüttelt dein
Verrinnen, Zeit! Mir schaudert doch.
Es will die letzte Stunde sein
Einsam durchwacht.
Geschehen all,
Was ich begangen und gedacht,
Was mir aus Haupt und Herzen stieg:
Das steht nun eine ernste Wacht
Am Himmelstor. O halber Sieg!
O schwerer Fall!
Wie reißt der Wind
Am Fensterkreuze! Ja, es will
Auf Sturmesfittiche das Jahr
Zerstäuben, nicht ein Schatten still
Verhauchen unterm Sternenklar.
Du Sündenkind,
War nicht ein hohl
Und heimlich Sausen jeden Tag
In deiner wüsten Brust Verlies,
Wo langsam Stein an Stein zerbrach,
Wenn es den kalten Odem stieß
Vom starren Pol?
Mein Lämpchen will
Verlöschen, und begierig saugt
Der Docht den letzten Tropfen öl.
Ist so mein Leben auch verraucht?
Eröffnet dich des Grabes Höhl
Mir schwarz und still?
Wohl in dem Kreis,
Den dieses Jahres Lauf umzieht,
Mein Leben bricht. Ich wusst es lang,
Und dennoch hat dies Herz geglüht
In eitler Leidenschaften Drang.
Mir brüht der Schweiß
Der tiefsten Angst
Auf Stirn und Hand. Wie? dämmert feucht
Ein Stern dort durch die Wolken nicht?
War es der Liebe Stern vielleicht,
Dir zürnend mit dem trüben Licht,
Dass du so bangst?
Horch, welch Gesumm?
Und wieder? Sterbemelodie!
Die Glocke regt den ehrnen Mund.
O Herr, ich falle auf das Knie:
Sei gnädig meiner letzten Stund!
Das Jahr ist um!
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Wilhelm Busch (1832-1908)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/wilhelm_busch.php
Zum Neujahr
Bald, so wird es zwölfe schlagen.
Prost Neujahr! wird mancher sagen;
Aber mancher ohne Rrren!
Denn es gibt vergnügte Herren.
Auch ich selbst, auf meinen Wunsch,
Mache mir ein wenig Punsch. -
Wie ich nun allhier so sitze
Bei des Ofens milder Hitze,
Angetan den Rock der Ruhe
Und die schönverzierten Schuhe,
Und entlocke meiner Pfeife
Langgedehnte Wolkenstreife,
Da spricht mancher wohl entschieden:
Dieser Mensch ist recht zufrieden!
Leider muss ich, dementgegen,
Schüttelnd meinen Kopf bewegen. -
Schweigend lüfte ich das Glas.
(Ach, wie schön bekömmt mir das!) -
Sonsten wie erfreulich war es,
Wenn man so am Schluss des Jahres
Oder in des Jahres Mitten
Zum bewussten Schrein geschritten
Und in süßem Traum verloren,
Emsig den Kupon geschoren!
Aber itzo auf die Schere
Sickert eine Trauerzähre,
Währenddem der Unterkiefer
Tiefer sinkt und immer tiefer. -
Traurig leere ich das Glas
(Ach, wie schön bekömmt mir das!) -
Henriette, dieser Name
Füllt mich auch mit tiefem Grame:
Die ich einst in leichten Stoffen
Herzbeklemmend angetroffen
Nachts auf dem Kasinoballe,
Sie, die später auf dem Walle
Beim Ziewiet der Philomele
Meine unruhvolle Seele
Hoch beglückt und tief beseligt,
Sie ist anderweit verehlicht,
Ist im Standesamtsregister
Aufnotieret als Frau Pfister,
Und es wird davon gesprochen,
Nächstens käme sie in Wochen. -
Grollend lüfte ich das Glas.
(Ach, wie schön bekömmt mir das!) -
Ganz besonders und vorzüglich
Macht es mich so mißvergnüglich,
Dass es mal nicht zu vermeiden,
Von hienieden abzuscheiden,
Dass die Denkungskraft entschwindet,
Dass man sich so tot befindet,
Und es sprechen dann die Braven:
Siehe da, er ist entschiafen.
Und sie ziehn gelind und lose
Aus der Weste oder Hose
Den geheimen Bund der Schlüssel,
Und man rührt sich auch kein bissel,
Sondern ist, obschon vorhanden,
Friedlich lächelnd einverstanden. -
Schaudernd leere ich das Glas.
(Ach, wie schön bekömmt mir das!) -
Wo wird dann die Seele weilen?
Muss sie sich in Duft zerteilen?
Oder wird das alte Streben,
Hübsche Dinge zu erleben,
Sich in neue Form ergießen,
Um zu lieben, zu genießen,
Oder in Behindrungsfällen
Sehr zu knurren und zu bellen?
Kann man, frag' ich angstbeklommen,
Da denn gar nicht hinterkommen?
Kommt, o kommt herbeigezogen,
Ihr verehrten Theologen,
Die ihr längst die ew'ge Sonne
Treu verspundet in der Tonne.
Überschüttet mich mit Klarheit! -
Doch vor allem hoff' ich Wahrheit
Von dem hohen Philosophen;
Denn nur er, beim warmen Ofen,
Als der Pfiffigste von allen,
Fängt das Licht in Mäusefallen. -
Prost Neujahr! Und noch ein Glas!
(Ei, wie schön bekömmt mir das!) -
Uh, mir wird so wohl und helle!
Himmel, Sterne, Meereswelle,
Weiße Möwen, goldne Schiffe;
Selig schwanken die Be-jiffe,
Und ich tauche in das Bette
Mit dem Seufzer: Hen-i-jette!
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Kurt Tucholsky (1890-1935)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/kurt_tucholsky.php
Silvester
Was fange ich Silvester an?
Geh ich in Frack und meinen kessen
Blausanen Strümpfen zu dem Essen,
Das Herr Generaldirektor gibt?
Wo man heut nur beim Tanzen schiebt?
Die Hausfrau dehnt sich wild im Sessel -
Der Hausherr tut das sonst bei Dressel -,
Das junge Volk verdrückt sich bald.
Der Sekt ist warm. Der Kaffee kalt -
Prost Neujahr!
Ach, ich armer Mann!
Was fange ich Silvester an?
Wälz ich mich im Familienschoße?
Erst gibt es Hecht mit süßer Sauce,
Dann gibt's Gelee. Dann gibt es Krach.
Der greise Männe selbst wird schwach.
Aufsteigen üble Knatschgerüche.
Der Hans knutscht Minna in der Küche.
Um zwölf steht Rührung auf der Uhr.
Die Bowle -? ("Leichter Mosel" nur - )
Prost Neujahr!
Ach, ich armer Mann!
Was fange ich Silvester an?
Mach ich ins Amüsiervergnügen?
Drück ich mich in den Stadtbahnzügen?
Schrei ich in einer schwulen Bar:
"Huch, Schneeballblüte! Prost Neujahr -!"
Geh ich zur Firma Sklarz Geschwister -
Bleigießen? Ists ein Fladen klein:
Dies wird wohl Deutschlands Zukunft sein...
Prost Neujahr!
Helft mir armem Mann!
Was fang ich bloß Silvester an?
(Einladungen dankend verbeten.)
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Frank Wedekind (1864-1918)
Silvester
Mein Fenster öffnet sich um Mitternacht,
Die Glocken dröhnen von den Türmen nieder,
Die Berge leuchten rings in Flammenpracht,
Und aus den dunklen Gassen hallen Lieder.
Will mir der Lärm, will mir der blut'ge Schein
Des nahen Völkerkriegs Erwachen deuten? -
Noch ist die Saat nicht reif. Die Glocken läuten
Dem neuen Jahr. - Wird es ein bessres sein?
Ein neues Jahr, in dem mit blassem Neid
Die Habsucht und die Niedertracht sich messen;
Ein neues Jahr, das nach Vernichtung schreit;
Ein neues Jahr, in dem die Welt vergessen,
Dass sie ein Altar dem lebend'gen Licht;
Ein neues Jahr, des dumpfe Truggewalten
Den Adlerflug des Geistes niederhalten;
Ein neues Jahr! - Ein bessres wird es nicht.
Von Goldgier triefend und von Gaunerei,
Die Weltgeschichte, einer feilen Dirne
Vergleichbar, kränzt mit Weinlaub sich die Stirne,
Und aus der Brust wälzt sich ihr Marktgeschrei:
Herbei, ihr Kinder jeglicher Nation;
An Unterhaltung ist bei mir nicht Mangel.
Im Internationalen Tingeltangel,
Geschminkt und frech, tanz' ich mir selbst zum Hohn.
Den he'ligen Ernst der menschlichen Geschicke
Wandl' ich zur Posse, dass ihr gellend lacht;
Den Freiheitsdurst'gen brech' ich das Genicke,
Damit mein Tempel nicht zusammenkracht.
Ich bin der Friede, meine holden Blicke
Besel'gen euch in ew'ger Liebesnacht;
Wärmt euch an mir und schlaft bei meinem Liede
Sanft und behaglich ein; ich bin der Friede!
Drum segne denn auch für das künft'ge Jahr
Gott euren süßen Schlaf. Das Todesröcheln
Des Bruders auf der Freiheit Blutaltar
Verhallt, wenn meine fleisch'gen Lippen lächeln.
Nur wenn der eigne Geldsack in Gefahr,
Dann tanz' ich mit den schellenlauten Knöcheln
Sofort Alarm, damit euch eure Schergen
Zu den geraubten neue Schätze bergen.
Warum schuf Gott den Erdball rund, warum
Schuf Krupp'sche Eisenwerke er in Essen,
Als dass den Heiden wir mit Christentum
Und Schnaps das Gold aus den Geweiden pressen.
Ein halb Jahrtausend ist das nun schon Mode,
Doch sehr verfeinert hat sich die Methode:
Kauf oder stirb! Wer seines Goldes bar,
Den plagt dann ferner auch kein Missionar.
Ich bin der Friede, meine Schellen läuten,
Sobald des Menschen Herz sich neu belebt,
Und meine Füße, die den Tod bedeuten,
Zerstampfen, was nach Licht und Freiheit strebt.
Ich bin der Friede, und so wahr ich tanze
Auf Gräbern in elektrisch grellem Glanze,
Es fällt zum Opfer mir das künft'ge Jahr,
Wie das geschiedne mir verfallen war!
So sang die Göttin. Aber Gott sei Dank,
Noch eh sie dirnenhaft von hinnen knixte,
Gewahrt' ich, dass die üpp'ge Diva krank
Und alt, so rot sie sich die Wangen wichste,
Dass schon der Tod ihr selbst die Brust gehöhlt;
Und tausend Bronchien rasselten im Chore:
Der rote Saft sprengt dieses Leichnams Tore,
Eh er noch einmal seine Jahre zählt.
Dann wurden unterird'sche Stimmen laut:
Der Mensch sei nicht zum Knecht vor goldnen Stufen,
Es sei zum Herrscher nicht der Mensch berufen,
Der Mensch sei nur dem Menschen angetraut.
Ein dumpfes Zittern, wie aus Katakomben,
Erschütterte den Boden. Alsogleich
Ward jeden Gastes Antlitz kreidebleich:
Bewahr' uns Gott vor Anarchie und Bomben!
Ich aber denke: Eh ein Jahr vergeht,
Vergeht die Kirchhofsruhe. Böse Zeichen
Verkünden einen Krieg, der seinesgleichen
Noch nicht gehabt, solang die Erde steht.
Noch ist die Saat nicht reif, doch wird sie reifen,
Und Habgier gegen Habgier greift zum Schwert;
Es wird der Bruder, seines Bruders wert,
Dem Bruder mörd'risch nach der Kehle greifen.
Die Glocken sind verhallt, verglommen sind
Die Feuerbrände und verstummt die Lieder;
Die alte, ew'ge, blinde Nacht liegt wieder,
Wie sie nur je auf Erden lag, so blind;
Und doch hängt das Geschick an einem Haar
Und lässt sich doch vom Klügsten nicht ergründen.
Wie werden diese Welt wir wiederfinden,
Wenn wir sie wiederfinden, übers Jahr?
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
unbekannt
Lasst uns froh das Jahr beschließen...
Lasst uns froh das Jahr beschließen,
was es immer auch gebracht!
Mocht' uns manches auch verdrießen,
haben wir doch mehr gelacht
voller Freude, voller Lust,
laut hinaus aus voller Brust.
Lasst uns froh ins Neue schauen,
dass es stets nur Gutes bringt!
Lasst uns blind darauf vertrauen,
dass uns alles wohl gelingt,
was wir planen, was wir hoffen.
Hold steh uns die Zukunft offen.
Lasst uns froh die Gläser heben
auf ein gutes, neues Jahr!
Fördern soll es unser Streben,
bannen soll es Notgefahr.
Horchet, wie die Glocken klingen!
Frieden sollen sie uns bringen.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Ludwig Thoma (1867-1921)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/thoma.php
Neujahr bei Pastors
Mama schöpft aus dem Punschgefäße,
Der Vater lüftet das Gesäße
Und spricht: "Jetzt sind es vier Minuten
Nur mehr bis zwölfe, meine Guten.
Ich weiß, dass ihr mit mir empfindet,
Wie dieses alte Jahr entschwindet,
Und dass ihr Gott in seinen Werken
- Mama, den Punsch noch was verstärken! -
Und dass ihr Gott von Herzen danket,
Auch in der Liebe nimmer wanket,
Weil alles, was uns widerfahren
- Mama, nicht mit dem Arrak sparen! -
Weil, was geschah, und was geschehen,
Ob wir es freilich nicht verstehen,
Doch weise war, durch seine Gnade
- Mama, er schmeckt noch immer fade! -
In diesem Sinne meine Guten,
Es sind jetzt bloß mehr zwei Minuten,
In diesem gläubig frommen Sinne
- Gieß noch mal Rum in die Terrine! -
Wir bitten Gott, dass er uns helfe
Auch ferner - Wie? Es schlägt schon zwölfe?
Dann prosit! Prost an allen Tischen!
- Ich will den Punsch mal selber mischen."
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Ludwig Thoma (1867-1921)
www.lyrik-lesezeichen.de/gedichte/thoma.php
Silvesternacht
Und nun, wenn alle Uhren schlagen,
So haben wir uns was zu sagen,
Was feierlich und hoffnungsvoll
Die ernste Stunde weihen soll.
Zuerst ein Prosit in der Runde!
Ein helles, und aus frohem Munde!
Ward nicht erreicht ein jedes Ziel,
Wir leben doch, und das ist viel.
Noch einen Blick dem alten Jahre,
Dann legt es auf die Totenbahre!
Ein neues grünt im vollen Saft!
Ihm gelte unsre ganze Kraft!
Wir fragen nicht: Was wird es bringen?
Viel lieber wollen wir es zwingen,
Dass es mit uns nach vorne treibt,
Nicht rückwärts geht, nicht stehen bleibt.
Nicht schwächlich, was sie bringt, zu tragen,
Die Zeit zu lenken, lasst uns wagen!
Dann hat es weiter nicht Gefahr.
In diesem Sinne: Prost Neujahr!
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