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Aloys Blumauer (1755-1798)

An die Weisheit

Holde Himmelstochter, deren Klarheit
Jeden Geist, der frei ist, an sich zieht,
Allgetreue Führerin zur Wahrheit,
Die den Sterblichen bald äfft, bald flieht!

Licht, von dessen Strahl die Seele lebet,
Sonne der gesammten Geisterwelt,
Du, zu der der Adler in uns strebet,
Den die Hülle noch gefangen hält!

Du, die man seit Menschenangedenken
Als ein Weib im Ritterschmuck verehrt,
Das mit männlichfestem Ernst uns – denken,
Und mit Weibesinbrunst – lieben lehrt!

Deren Schild die Schlangenbrut gedämpfet,
Die der schwache Mensch im Busen nährt,
Deren Lanze gegen Drachen kämpfet,
Die der blöde Geist auf Knien ehrt!

Deren Aug', an Sonnenglanz gewöhnet,
Nie vor einem Strahl der Wahrheit bricht,
Und dem Geist, der zu erblinden wähnet,
Winkt: Blick auf, die Wahrheit blendet nicht!

Dich, o Göttin! die wir Weisheit nennen,
Sucht sich unser reger Geist zur Braut;
Aber wird er dich erreichen können,
Dich, vor deren Höh' dem Blicke graut?

In dem Dunkel dieses Erdenlebens
Rangen Viele schon nach deinem Licht,
Aber ach! sie mühten sich vergebens,
Denn, wo sie dich suchten, warst du nicht.

Mit dir prangten Griechenlands Sophisten,
Glaubten sich bereits auf deiner Spur;
Aber ihre Kunst war Überlisten
Wo du leuchtest, blendeten sie nur.

Um den Geist an deinem Blick' zu sonnen,
Sperrte Diogen ins Fass sich ein;
Doch die Weisheit wohnet nicht in Tonnen,
Denn der Weise lebt sich nicht allein.

And're suchten dich in heißen Wüsten,
Streiften da den Menschen von sich ab,
Harrten, wachten, fasteten und büßten,
Und bereiteten dem Geist sein Grab.

Doch du wohntest nicht in einem Lande,
Wo der Geist mit Hirngespinnsten focht,
Und bliebst fern von einer trägen Bande,
Die der Menschheit nichts – als Körbe flocht.

Andre suchten dich im Land der Sterne,
Gingen über Wolken hoch einher,
Und vergaßen in erträumter Ferne
Sich und andre Menschen um sich her.

Viele wähnten in der Hieroglyphen
Rätselhaften Nacht dich eingehüllt;
Doch sie irrten, denn vergebens griffen
Sie im Finstern nach der Sonne Bild.

Wir auch, Göttin, streben dir entgegen,
Wir auch folgen deiner lichten Spur,
Aber nicht auf allen diesen Wegen,
Auf dem offnen Pfade der Natur.

Hör' uns, Göttin, wenn wir hier auf Erden
Auf zu dir um Selbsterkenntniß fleh'n,
Lass es Tag in unserm Innern werden,
Dass wir alle uns're Flecken seh'n!

Lass der Menschen Herz sich uns entfalten,
Schütz' es vor Betrug und Heuchelei,
Dass der Mensch in allen den Gestalten,
Die Natur ihm gab, uns heilig sei!

Lass uns nie der Dummheit Tempel bauen,
Lehre der Gewalt uns wiedersteh'n,
Lass den Heuchler durch und durch uns schauen,
Und der Bosheit Schlangengang uns seh'n!

Lass uns hier in einem Bund vereinet,
Helfen, wo der Mensch den Menschen plagt,
Lass uns hören, wo die Unschuld weinet,
Und die Schwäche über Stärke klagt!

Lass, o lass der Menschheit Wohl uns gründen,
Sie verehren in dem kleinsten Glied,
Und den Friedenszweig ums Haupt ihr winden,
Der in deinen Händen nie verblüht.

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