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Johann Gottfried Seume (1763-1810)

Die Gesänge

Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet wird kein Mensch beraubt:
Bösewichter haben keine Lieder.

Wenn die Seele tief in Gram und Kummer,
Ohne Freunde, stumm, verlassen, liegt,
Weckt ein Ton, der sich elastisch wiegt,
Magisch sie aus ihrem Todesschlummer.

Wer sich nicht auf Melodienwogen
Von dem Trosse des Planeten hebt
Und hinüber zu den Geistern lebt,
Ist um seine Seligkeit betrogen.

Männer gibt es, die den Geist verhöhnen,
Sich hinab zu den Polypen ziehn;
Und dort stehn sie, wenn sie nicht entglühn
In des Seelenliedes Silbertönen.

Göttliche Begeisterer, Gesänge,
Weckt in euerm Labyrinthenlauf
Oft in mir mir meinen Himmel auf;
Gern verlier' ich dann mich in der Menge.

Mit Gesange weiht dem schöne Leben
Jede Mutter ihren Liebling ein,
Trägt ihn lächelnd durch den Maienhain,
Ihm das schönste Wiegenlied zu geben.

Mit Gesängen eilet in dem Lenze
Rasch der Knabe von des Meisters Hand,
Und die Schwester flicht am Wiesenrand
Mit Gesang dem Gaukler Blumenkränze.

Mit Gesange spricht des Jünglings Liebe,
Was in Worten unaussprechlich war;
Und der Freundin Herz wird offenbar
Im Gesange, den kein Dichter schriebe.

Männer hangen an der Jungfrau Blicken;
Aber wenn ein himmlischer Gesang
Seelenvoll der Zauberin gelang,
Strömt aus ihrem Strahlenkreis Entzücken.

Orpheus alte Zauberlieder machten
Wilde milde; durch Amphions Laut
Wurden Kadmus Mauern aufgebaut;
Mit Gesang gewann Tyrtäus Schlachten.

Mit dem Liede, das die Weisen sannen,
Sitzen Greise froh vor ihrer Tür,
Fürchten weder Bonzen noch Vezier;
Vor dem Liede beben die Tyrannen.

Mit dem Liede greift der Mann zum Schwerte,
Wenn es Freiheit gilt, und Fug, und Recht,
Steht und trotzt dem eisernen Geschlecht,
Und begräbt sich dann im eignen Werte.

Wenn der Becher mit dem Traubenblute
Unter Rosen unsre Stunden kürzt,
Und die Weisheit unsre Freuden würzt,
Macht ein Lied den Wein zum Göttergute.

Harmonie ist aller Welten Jugend;
Dem berauschten Weisheitsforscher heißt
Harmonie des Menschen hehrer Geist,
Harmonie dem Samier die Tugend.

Das Geheimnis, dass sie alle Geister
Mächtig fort auf ihren Schwingen trägt
Und in Gottes Schoße niederlegt,
Löset nur der große Weltenmeister.

Stürmend fliegt der Blick im hohen Liede
Durch der Orione Feuerbahn;
Sanfte Laute wehn uns lieblich an,
Und um unsre Stirne säuselt Friede.

Des Gesanges Seelenleitung bringet
Jede Last der Arbeit schneller heim,
Mächtig vorwärts jeder Tugend Keim:
Weh dem Lande, wo man nicht mehr singet.

Selbst die Rotte schrecklicher Dämonen,
Die im Sturme von dem Himmel fiel,
Glaubet bei der Hölle Saitenspiel,
Fromm getäuscht, noch in dem Licht zu wohnen.

Männer des Gesanges, eure Seelen
Ziehn den Himmel oft zu uns herab:
Wer, wem Gott nicht seinen Funken gab,
Kann den Segen eurer Schöpfung zählen.

Höher wird des Urgeists Macht und Ehre,
Die den Welten ihre Bahnen schmückt,
In dem Endlichen nicht ausgedrückt,
Als in euerm Harmonienmeere.

Männer, nehmt den Dank, den ihr erworben,
Für die Seligkeiten, die ihr schuft:
Wen nicht ihr zu seiner Würde ruft,
Ist für alle Tugenden erstorben.

Lieder spielen, wie mit Wachs, mit Herzen;
Rührt der Sänger nur den rechten Ton,
Schnell ist alle Seelenangst entflohn,
Schweigen Stürme und entschlummern Schmerzen.

Lieder sind in jener Strahlenwohnung,
Wo der Blick ins Empyreum taucht
Und das Licht der Geister Leben haucht,
Der verklärten Heiligen Belohnung.

Wenn die Sprache stirbt von meinem Munde
Und der Schauer mein Gebein durchläuft,
Und mit Eisenarm der Tod mich greift;
Singt ein Lied zu meiner schönen Stunde!

Mit geprüfter Seelenweisheit haben
Unsre Väter längst für uns gedacht,
Lassen mit Gesang zur guten Nacht
Für den bessern Morgen uns begraben.

Täuscht uns nicht ein Ton aus jenen Chören,
Werden wir dann unter Sphärentanz
Mit dem Lichtblick durch die Sonnen ganz
Dort den großen Musageten hören.

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